Ich drehte mich wieder zu ihr um, sah sie an und wandte mich erneut zum Gehen.
„Die ungehobelten Fremden müssen immer zuerst dran glauben“, ergänzte sie hastig. „Auf diese Weise beginnen so gut wie alle Geschichten in den zentralregierten Ländern.“
Obwohl ich nicht die geringste Ahnung davon hatte, wovon sie redete, und es mich nur wenig interessierte, hielt ich inne und betrachtete die Dame mit abwartender Höflichkeit.
„Wie ich schon sagte, es heißt, jemand sei dem Peryptolithen zu nahe getreten. Es geht das Gerücht, man habe versucht, ihn zu zerstören“, erzählte sie heftig mit ihren fülligen Armen gestikulierend. „Schon seit Tagen redet man in Duneburg von nichts anderem. Bisher gab es nur viele kleinere Vorfälle, die sich heimlich in der ganzen Stadt zugetragen haben. Doch heute soll es tatsächlich jemand vor aller Augen versucht haben.“
„Die ganze Stadt sucht nach einem Sündenbock und der eigens dafür berufene ehrenamtliche Stadtschutz arbeitet auf Hochtouren. Gerade ungewöhnliche Besucher sowie bereits auffällig gewordene Bürger und Nichtsänger stehen schon durch ihre bloße Anwesenheit in der Stadt unter Verdacht. Alles wartet nur darauf, dass jemand von uns sich zum Reden bereit erklärt und endlich ein Sündenbock gefunden ist.“
„Du willst sagen, wir sitzen im selben Boot“, fasste ich ihr bedeutungsschweres Geplänkel zusammen.
Die dicke Frau zuckte möglichst unschuldig mit ihren schweren Schultern.
„Gewöhne dir einfach an, zu fragen, wenn du Hilfe brauchst“, maßregelte ich sie. „Solange ich in der Stadt bin, werde ich sehen, was ich für dich tun kann.“
„Ich wusste doch, dass du einer von den Guten bist.“ Sie lächelte verschmitzt. „Nun ja, gut für mich.“
„Erwarte nicht, dass ich den ganzen Tag auf deiner Türschwelle sitze“, betonte ich. „Wenn ich da bin und etwas passiert, bin ich da.“
„Damit kann ich gut und gerne leben“, meinte sie erleichtert.
Ich warf ihr einen schmalen Blick zu.
Nein, dachte ich bei mir, zu trauen war ihr bei Weitem nicht, aber immerhin war dies mehr als offensichtlich.
„Womit muss ich in etwa rechnen?“, fragte ich.
„Wie meinen?“
„Du sagtest die Stadt und ihr Schutz seien hinter allen möglichen Leuten her“, sprach ich. „Wer genau ist uns auf den Fersen? Veteranen der Stadtwache? Organisierte Banden? Besorgte Bürger? Eine Horde Verrückter?“
Die einnehmende Dame überlegte kurz und nickte.
„Letzteres“, antwortete sie. „Die meisten Bewohner von Duneburg lassen sich problemlos in diese Gruppe einordnen.“
„Eine große Herausforderung ist das nicht“, brummte ich. „Vorhin wirkten die meisten von ihnen an und für sich recht friedlich. Nicht unbedingt richtig im Kopf, aber friedlich.“
„Oh, das sind sie auch“, bestätigte die Herrin des Hauses. „Würden die singenden Einwohner dieser Stadt sämtliche Nichtsänger vergraulen, gäbe es in ganz Duneburg niemanden, der die wichtigen Arbeiten erledigt und die Wirtschaft in Gang hält.“
„Was für Arbeiten sollen das sein?“, sprach ich.
„Nun, Arbeiten eben.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das Buch, so nennen es die Sänger von Duneburg, verlangt, dass vier von sieben Wochentagen ausschließlich der Messe gewidmet werden. Es bleiben demnach nur drei Tage für wirtschaftliche und familiäre Pflichten. Jedoch ist es nicht verboten, während der Messetage Hilfskräfte zu beschäftigen. Die Duneburger und speziell die Sängergemeinde haben hierfür ein sehr ausgeklügeltes Abgaben- und Vergütungssystem entwickelt. Und das funktioniert sogar, obwohl die Sänger selbst kein Geld aus geschäftlichen Transaktionen annehmen dürfen ...“
„Dieses Dauergesinge hat auch etwas damit zu tun“, schlussfolgerte ich ins Blaue.
„Eigentlich ist es mehr ein Rezitieren als Gesang“, erwiderte die beleibte Frau. „Die Duneburger Sänger versammeln sich zur Messe um den Peryptolithen und sagen dort die Texte aus dem Buch in der Sprache des Buches auf.“
„Die Leute in dieser Gegend haben es wohl sehr mit Büchern“, sagte ich.
„Eigentlich nur mit einem Buch – mit dem Buch“, sprach sie. „Die Sänger sind davon regelrecht besessen. Haben sie erst einmal mit der Rezitation begonnen, ist es nahezu unmöglich einen von ihnen auch nur anzusprechen.“
„Was für Dummköpfe“, raunte ich kopfschüttelnd.
Die kugelige Hand der Hausherrin ergriff über den Tresen hinweg mein Handgelenk. Als ich von dieser Geste aufsah, blickte ich in ein Paar dunkel umtuschte Augen, welches mich mit einem ernst zu nehmenden Drohblick bedachte.
„Hör mal, Aiden“, sprach mich die Dame an. „So gutmütig die Duneburger auch sind und so besessen viele von ihnen die Zeilen des Buches aufsagen, man kann sie sehr leicht provozieren.“
Noch bevor ich die Augen verdrehen konnte, sprang hinter mir die Tür zur Straße auf.
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